Benötigen Elektroautos noch Leichtbau?
30.10.2019, München
Strengere Vorschriften zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen und die zunehmende Akzeptanz von Elektrofahrzeugen führen dazu, dass immer mehr Automobilhersteller in den Bereich der neuen Energiefahrzeuge investieren. In diesem Kontext überdenken Ingenieure die Weiterentwicklung bestehender Technologien. Leichtbautechnologien, die sich als wirksame Maßnahme zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen bei Verbrennungsmotorfahrzeugen bewährt haben, müssen im Kontext von Elektrofahrzeugen neu bewertet werden. Da Elektrofahrzeuge selbst keine Emissionen verursachen, wird die Notwendigkeit und Wirkung von Leichtbaumaßnahmen infrage gestellt. Es gibt Stimmen, die argumentieren, dass Automobilhersteller ihre Ressourcen besser in andere Bereiche wie intelligente Fahrsysteme oder Batterie-, Motor- und Elektroniksysteme investieren sollten.
Um diese Fragen besser zu beantworten, erläutern wir zunächst den grundlegenden Hintergrund der beiden Antriebstypen. Die Reduzierung des Fahrzeuggewichts kann den Kraftstoffverbrauch pro 100 Kilometer direkt und indirekt senken, wodurch die Treibhausgasemissionen bei Verbrennungsmotoren reduziert werden. Dies hilft, mögliche finanzielle Strafen zu vermeiden, die durch Überschreiten der gesetzlichen Grenzwerte für CO2-Emissionen pro Kilometer entstehen können (die EU verlangt, dass bis 2021 der durchschnittliche CO2-Ausstoß von Neuwagen eines Herstellers 95 Gramm pro Kilometer nicht überschreitet). Die Hauptantriebsfaktoren für den Einsatz von Leichtbautechnologien bei Verbrennungsmotorfahrzeugen sind zwei: erstens die Reduzierung der CO2-Emissionen pro Kilometer und zweitens die Kompensation der Gewichtszunahme durch erhöhte Komfortmerkmale und höhere Sicherheitsanforderungen.
Zu Beginn war die Hauptmotivation für den Einsatz von Leichtbautechnologien bei Elektrofahrzeugen, das erhebliche Mehrgewicht des Batteriesystems auszugleichen und somit die Reichweite zu erhöhen. Die Praxis hat jedoch gezeigt, dass dieser Effekt nicht so signifikant ist wie erwartet. Am Beispiel des NIO ES8 zeigt sich, dass eine Gewichtsreduzierung von 100 Kilogramm bei einem großen SUV mit 6/7 Sitzen die Reichweite nur um weniger als 10 Kilometer erhöht (siehe Abbildung 1). Trotzdem bleibt Leichtbau im Vergleich zu anderen Maßnahmen wie der Reduzierung des Luftwiderstands oder der Stirnfläche die effektivste Methode, um die Reichweite zu erhöhen (eine Verringerung des Luftwiderstandsbeiwerts um 0,01 entspricht einer Reichweitensteigerung von 2 bis 3 Kilometern).
Angesichts der emissionsfreien Eigenschaften von Elektrofahrzeugen und der begrenzten Auswirkungen des Gewichts auf ihre Reichweite gibt es weiterhin Diskussionen und Zweifel an der Notwendigkeit von Leichtbautechnologien für Elektrofahrzeuge. NIO kann diese Zweifel jedoch durch die folgenden zwei Punkte klar beantworten.

- Hochleistungsanforderungen
Der NIO-Supersportwagen EP9 ist ein herausragendes Beispiel für die Bedeutung des Leichtbaus. Dieser Supersportwagen ist mit vier Hochleistungsmotoren ausgestattet, die eine Leistung von insgesamt 1360 PS erzeugen. Durch den umfassenden Einsatz von Kohlefaser im Chassis, in der Aufhängung sowie im Innen- und Außenbereich (siehe Abbildung 2) wiegt die integrierte Karosserie und das Chassis insgesamt nur 165 Kilogramm, was nur 9,5% des Gesamtgewichts des Fahrzeugs ausmacht. Dennoch kann das Fahrzeug Beschleunigungskräfte von bis zu 3g bei extremen Fahrmanövern aushalten.

Dank des Einsatzes von hochleistungsfähigen Leichtbaumaterialien wie Kohlefaser erreicht das Fahrzeug ein bemerkenswertes Leistungsgewicht von 1,275 kg/PS und erfüllt somit extreme Hochleistungsanforderungen. Im Vergleich zu Serienfahrzeugen haben Supersportwagen völlig andere Anforderungen an den Einsatz von Leichtbaumaterialien. Aufgrund der geringen Stückzahlen und hohen Verkaufspreise können Supersportwagen umfangreich teure, hochleistungsfähige Kohlefasermaterialien verwenden und langwierige, handwerklich aufwändige Produktionstechniken einsetzen.
2. Leichtbaukosten und Kundenanforderungen
Normalerweise wird bei Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren die Leichtbauweise anhand der Kosten pro Kilogramm Gewichtseinsparung bewertet. Besonders bei Materialsubstitutionen, wie der Verwendung von Aluminiumlegierungen und Verbundwerkstoffen anstelle von Stahl, ist diese Methode direkt anwendbar. Für die meisten Automobilhersteller liegt die akzeptable Kostenrate für die Gewichtsreduktion je nach Fahrzeugtyp und Umsetzungseffekten zwischen 20 und 100 RMB pro Kilogramm.
Bei Elektrofahrzeugen ist dieses Bewertungsschema aufgrund ihrer emissionsfreien Eigenschaften und der veränderten Kostenstruktur (z.B. die Batterie macht mehr als 30% der Kosten aus) nicht mehr anwendbar. Daher setzen viele Automobilhersteller, die hauptsächlich Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren herstellen, bei den ersten Elektrofahrzeugen auf stahlbasierte Materialien, um Material- und Herstellungskosten zu sparen. NIO hingegen hat aufgrund des Verständnisses der Fahrzeugleistung und interner Vergleichsstudien verschiedene technische Lösungen entwickelt.
Beim NIO ES8 wurde eine Karosserie aus Vollaluminium verwendet, wodurch das Gesamtgewicht des Fahrzeugs 2460 kg beträgt. Mit einem schnell austauschbaren 70-kWh-Batteriepaket erreicht das Fahrzeug eine kombinierte Reichweite von 355 km. Basierend auf den Leistungsanforderungen, dem Engineering-Design und den Kosteninformationen wurde die folgende Methode zur Berechnung der Leichtbaukosten entwickelt. Wie in Tabelle 1 dargestellt, wurde die Vollaluminiumlösung des ES8 umfassend mit zwei alternativen Lösungen verglichen: der Vollstahl- und der Mischmateriallösung.

Obwohl die Vollstahl-Lösung zu Beginn des Projekts intern bei NIO abgelehnt wurde, haben wir dennoch einen umfassenden Vergleich durchgeführt, um die Rationalität der Entscheidung zu überprüfen. Beim Vollstahl-Ansatz wird das Gewicht der Karosserie auf 558 kg geschätzt. Diese Schätzung basiert auf der Annahme, dass eine Aluminiumlösung bei gleichen Leistungsanforderungen etwa 40 % leichter ist als eine Stahllösung. Neben der Karosserie wurde auch das Gewicht der Türen und Hauben berücksichtigt. Durch die schrittweise Reduzierung des Gewichts der Karosserie und der Türen können auch das Antriebssystem, das Fahrwerk und das Interieur an Gewicht verlieren. Diese Potenziale ergeben sich aus dem geringeren Energieverbrauch, der geringeren Achslast, den besseren Fahreigenschaften und den reduzierten Anforderungen an die Aufprallsicherheit, die durch den Leichtbau (die sogenannte Leichtbauspirale) entstehen. Basierend auf einer stahlbasierten Lösung wird das Gesamtgewicht des Fahrzeugs auf 2936 kg geschätzt. Ähnliche Gewichtsdaten finden sich auch bei frühen Elektrofahrzeugen traditioneller Automobilhersteller. In Bezug auf die Kosten kann eine stahlbasierte Lösung im Vergleich zu einer aluminiumdominierten Lösung etwa die Hälfte der Materialkosten einsparen. Die Kostenbetrachtung sollte jedoch nicht nur auf die Materialkosten beschränkt sein, sondern den gesamten Fahrzeugkostenansatz umfassen. Bei aktuellen Elektrofahrzeugen ist die Reichweite ein entscheidender technischer Parameter. Daher wurde die gleiche Reichweite als Vergleichsbasis für verschiedene Lösungen verwendet. Um den durch das höhere Gewicht verursachten Reichweitenverlust auszugleichen, benötigt die Stahllösung eine zusätzliche Batteriekapazität von 8 kWh. Der Marktpreis für eine Batterie lag 2017 bei etwa 1400 RMB pro kWh. Mittelfristig wird erwartet, dass der Preis mit dem Fortschritt der Batterietechnologie weiter sinken und die Energiedichte weiter steigen wird. Da die Zeitpunkte für den technologischen Wandel bei Batterien jedoch schwer vorhersehbar sind, bleiben die Batteriekosten ein wichtiger Faktor. Unter Berücksichtigung der Batteriepreise, der Kosten für Leichtbaumaterialien und der Fahrzeugleistung bietet die aluminiumdominierte Lösung ein deutlich besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis.
Bei einer aggressiveren Leichtbaustrategie könnte das Gewicht der Karosserie weiter reduziert werden. Basierend auf einem hybriden Materialansatz, der beispielsweise weniger als 20 % Stahl, etwa 60 % Aluminium und etwa 20 % Verbundwerkstoffe verwendet, könnte das Gewicht der Karosserie auf etwa 260 kg reduziert werden. Durch den Einsatz von thermoplastischen Verbundwerkstoffen könnte das Gewicht der Türen und Hauben im Vergleich zur Aluminiumlösung weiter reduziert werden. Durch eine umfassende Leichtbaulösung, einschließlich der Optimierung des Antriebssystems, des Fahrwerks und des Innen- und Außenbereichs, könnte das Gesamtgewicht des Fahrzeugs auf etwa 2210 kg gesenkt werden. Dieses Gewicht würde es einem Elektrofahrzeug ermöglichen, das Gewicht eines vergleichbaren Verbrennungsmotorfahrzeugs zu erreichen. Dank der Leichtbauweise könnte die Batteriekapazität um 4 kWh reduziert werden, ohne die Reichweite zu beeinträchtigen. Wenn die eingesparten Batteriekosten in die Leichtbaukosten umgewandelt werden, entspricht dies etwa 60 RMB pro Kilogramm. Zu den typischen zusätzlichen Vorteilen der Leichtbauweise gehören eine verbesserte Fahrzeughandhabung und eine bessere strukturelle Integration. Darüber hinaus kann ein effizientes Leichtbaudesign den Platzbedarf der Struktur verringern und mehr Raum für kundenrelevante Bereiche schaffen, was zu einem besseren Raumgefühl führt. In Anbetracht der zahlreichen zusätzlichen Vorteile können die Leichtbaukosten auf bis zu 150 RMB pro Kilogramm erhöht werden.
Diese Vergleiche zeigen deutlich das Potenzial der Leichtbautechnologie im Bereich der Elektrofahrzeuge. Der Einsatz von Leichtbaumaterialien zur Gewichtseinsparung und zur Verbesserung der Systemeffizienz ist nicht immer mit zusätzlichen Kosten verbunden. Auch wenn mittelfristig (vor 2030) erwartet wird, dass die Batteriekosten auf unter 700 RMB pro kWh sinken, bleibt dennoch viel Spielraum für die Umsetzung von Leichtbaumaßnahmen. Der Grund dafür liegt in den kontinuierlichen Fortschritten bei den Kosten und der Effizienz der entsprechenden Leichtbaumaterialien wie Kohlefaser. Neben der Reduzierung der Kosten für Kohlefaser (die etwa 40 % der Kosten für Leichtbaukomponenten ausmacht) werden auch die Weiterentwicklung effizienter Fertigungstechnologien und das Engineering-Design, das auf die Materialeigenschaften abgestimmt ist, zu erheblichen Kostensenkungen führen.
Bei NIO beschränkt sich die Leichtbauweise nicht nur auf die Kosten pro Kilogramm Gewichtsreduktion oder eine bestimmte Gewichtseinsparung. NIO verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, indem fortschrittliches Design, fortschrittliche Materialien und fortschrittliche Fertigungstechnologien genutzt werden, um das Geschäftsmodell und die -philosophie zu erfüllen, die auf den Kundenanforderungen basieren. Die zukünftigen Fahrzeugeigenschaften werden über den klassischen Transport von Punkt A nach Punkt B hinausgehen und intelligente Technologien und Internetanwendungen tief integrieren, um die unterschiedlichen Bedürfnisse der Nutzer zu erfüllen. Typische Kernanforderungen wie Fahrerlebnis, Sicherheit, Reichweite, Außendesign, Innendesign und Mensch-Maschine-Interaktion (siehe Abbildung 3) können das Benutzererlebnis deutlich verbessern und somit den kommerziellen Wert steigern.

In NIOs Konzeptfahrzeug EVE zeigen wir unsere Vision für das zukünftige Fahrzeugdesign (siehe Abbildung 4). Leichtbautechnologien mit neuen Materialien und Technologien sind oft die Grundlage für fortschrittliche Fahrzeugstrukturen und Innenraumgestaltungen.
Wenn Fahrzeuge als Erweiterung des Wohnraums betrachtet werden und eine heimische Umgebung bieten sollen (das Konzept des „Wohnzimmers auf Rädern“), wird das Fahrzeugdesign darauf ausgerichtet sein, den Bedürfnissen der Kunden nach Raum und Komfort gerecht zu werden. Zum Beispiel kann der Einsatz von hochfesten Verbundwerkstoffen den Querschnitt der Dachträgerstruktur reduzieren und so ein großzügiges Raumgefühl schaffen, ohne die Sicherheitsanforderungen zu beeinträchtigen. Darüber hinaus ermöglicht der kompakte Elektromotor im Vergleich zum größeren Verbrennungsmotor eine Erweiterung des Innenraums in Längsrichtung des Fahrzeugs.
In dem begrenzten Raum müssen die gleichen oder sogar höhere Energieabsorptionserfordernisse erfüllt werden, wofür fortschrittliche Materialien wie Verbundwerkstoffe ideal sind. Diese Materialien haben eine sehr hohe Energieabsorptionsfähigkeit und bieten so einen hervorragenden Schutz für die Insassen. Im Innenraum werden neue Strukturen und Designs auf dem Fahrzeugboden, den Sitzen, dem Cockpit und den Türen umgesetzt. Eine längliche Sitzbank kann mit einer großflächigen Sandwichstruktur gestaltet werden, was neben vielen funktionalen Vorteilen auch zur Erhöhung der Fahrzeugsteifigkeit beiträgt. Das Cockpit kann durch hochintegrierte Verbund- oder Hybridstrukturen realisiert werden, was das Gewicht reduziert und die Herstellungs- und Montagekosten senkt. Darüber hinaus können faserverstärkte thermoplastische Verbundwerkstoffe die Trennung von Struktur- und Verkleidungsteilen in traditionellen Innenraumstrukturen überwinden, was zu einer weiteren Reduzierung der Kosten und des Gewichts führt.

Für NIO ist es zweifellos so, dass die ganzheitliche Leichtbaustrategie nicht nur die systemische Effizienz erhöht, sondern auch die Kundenzufriedenheit mit dem Produkt steigert. Ein leichtes Fahrzeugdesign wird immer der Schlüssel zur Effizienz des gesamten Fahrzeugsystems sein, insbesondere wenn man den gesamten Produktlebenszyklus berücksichtigt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Leichtbaudesign und -technologie sowohl für traditionelle Verbrennungsmotorfahrzeuge als auch für neue Energiefahrzeuge unverzichtbare Elemente sind. Angesichts einer neuen Ära des Fahrzeugdesigns, die auf dem Konzept des zweiten Wohnzimmers und der Definition neuer Produkte als intelligente mobile Geräte basiert, werden fortschrittliche Materialien und Technologien der Schlüssel zu technischen und produktbezogenen Innovationen sein. Wir sollten die traditionelle, auf Kosten beschränkte Denkweise im Leichtbau aufgeben und den Ingenieuren erlauben, die Grenzen der Technologie und Innovation zu erkunden, um die Weiterentwicklung der Automobilindustrie voranzutreiben.